Halbzeit: unbeschreiblich viel gesehen, gehört, gefühlt. Vieles
davon lässt sich gar nicht verarbeiten, ich nehme es einfach hin. Ich zeige Dir
einfach mal, was ich heute erlebt habe. Diesmal keine Hochglanzfotos, sondern
etwas mehr über das Land.
Direkt vor unserer Haustür, vor
den Toren Hyderabads, erstreckt sich über 10 Kilometer das nach Guinness
größte Filmstudio der Welt. Hier sitzt das Herz der größten Filmindustrie
Indiens (Tollywood/Telugu film industry), welche wiederum zusammengenommen die
größte der Welt ist, wenn man mal von den Budgets absieht. 245 Filme wurden hier in Hyderabad alleine in einem Jahr gedreht, dazu kommen noch zahlreiche TV-Sendungen. Die Filmsprache ist Telugu, die Amtssprache von diesem Staat, der ungefähr so groß wie
Deutschland ist. Auch wenn Englisch und Hindi offizielle Sprachen Indiens sind,
spricht sie ein Großteil der Menschen hier nicht. Das führt dazu, dass sich die
Inder über die Bundesstaaten hinweg selbst nicht verstehen. Denn die 28 Staaten haben jeweils eigene Sprachen. Die sind verwandschaftlich so weit
voneinander entfernt, dass ein Inder im benachbarten Bundesstaat kein einziges
Wort versteht. Die wichtigsten Filme werden dann allerdings von Telugu auf
Hindi übersetzt, was zumindest die meisten Nordinder verstehen. Schon alleine
das lässt erahnen, wie vielfältig das Land ist und dass man es immer mit großen Zahlen zu tun hat, wenn man versucht, etwas von hier zu begreifen und zu beschreiben.Und dass man einfach nicht fassen kann, wie das Land demokratisch geführt wird.
Ich denke, die meisten Deutschen haben
eine ungefähre Vorstellung von indischen Filmen, die wenigsten haben einen
ganzen gesehen oder sehen können. Man kann sich dann meistens nur dran
erinnern, dass er bunt war und viel gesungen und getanzt wurde. So ist es wirklich,
und die meisten Filme erzählen auch von Liebesgeschichten, die sich alle ähneln. Für viele Europäer mag der oft übertrieben theatralische Stil und
die ewig-dramatischen Szenen befremdlich oder langweilig wirken. Aber hier, vor
Ort, macht alles viel mehr Sinn. Auch wenn Indien eine Demokratie und aufstrebende Weltmacht ist, eine sehr junge Bevölkerung hat
(Altersdurschnitt Indien: 25 Jahre, Deutschland: 43) und sich der Lebensstil
sichtlich verwestlicht, existieren nach wie vor unüberwindbare
gesellschaftliche Schranken: beinahe alle indischen Ehen werden von den Eltern
arrangiert. Viele der Paare sehen sich an ein paar Tagen vor der Hochzeit zum
ersten Mal. Und dies wiederum geschieht in der Regel nur unter Mitgliedern der
gleichen Kaste. Und obwohl an anderen Orten versucht wird, das Kastensystem zu
beerdigen, ist es doch immer wieder so, dass diejenigen Mächtigen, die von dem
System profitieren, sich auch weiter für dessen Erhalt einsetzen. In diesen
starren Strukturen, die es kontroverser Weise irgendwie in die Gegenwart
geschafft haben, schleicht sich eine Revolution ein. Die Filmindustrie
schmiedet Träume von grenzenloser Liebe, über die Kasten hinweg, über die
Eltern und die Tradition hinweg, vorbei an unausgesprochenen Verboten, dass
Frauen keine Bäuche oder Ausschnitte aufblitzen lassen dürfen, dass Paare sich
in der Öffentlichkeit nicht umarmen und küssen sollten. Schaltet man den
Fernseher ein, wird wild getanzt, Haut gezeigt und intime Szenen gefilmt. Und
die Masse der (jungen) Bevölkerung ist begeistert davon. Nicht nur, dass
täglich (!) ca. 10 Millionen Inder ins Kino pilgern und die neuen Botschaften
aufsaugen - das Filmeschauen in einem
indischen Kinosaal ist emotional so geladen wie damals vielleicht die Premieren
der ersten bewegten Leinwandbilder in Europa. Ein Ort, an dem man seinen Gefühlen und
Träumen freien Lauf lässt, um sie dann auf der Straße wieder zu verstecken. Diese
Euphorie kann mit viel Geduld und noch mehr Bildung vielleicht irgendwann mal ein Schlüssel
sein zu mehr Selbstbestimmung, was das Liebesleben und andere Werte angeht. Auch
hier muss ich anmerken, dass es sich um weite Teile der Bevölkerung handelt, es
aber auch immer wieder Ausnahmen gibt.
Eine Ausnahme bin ich mit meinen
Haaren und dem Bart auch, mir wurde jetzt schon mehrmals zugetragen, dass ich doch
wie ein Filmstar aussähe (nach Jesus und Talibanmitglied). Da hatte dann
neulich im Zug ein Inder gesagt, der Hauptdarsteller aus dem Hindi-Film „Rockstar“
wär so einer. Hab mich dann erst mal ganz stolz gefeiert. Heute erzählt mir Prasad,
dass der Kerl, wie jeder Filmstar (und auch Rockstar?) hier, den ganzen Film über kurze Haare und
Schnäuzer trägt. Bis auf 15 Minuten, da ist er deprimiert, spielt keine Musik
mehr, fängt an zu trinken – kurz, ihm geht’s so richtig dreckig, weil seine geheim
Geliebte einen anderen geheiratet hat. DA trägt er dann lange, lockige Haare. Generell ist meine Frisur wohl eher für
die Bösewichte und Schicksalsträger reserviert. So kann es gehen, wenn man seinen Rasierer aus
Gewichtsgründen zu Hause lässt.
Hier ein paar Schnappschüsse von
unserem Trip in die Ramoji Film City:
Erst gab es ein paar Blicke auf bunteste Drehkulissen...
... dann auch mal einen Bahnhof sammt Zug auf Reifen. Weiter ging's über diverse Tempel-Nachbauten...
...zu Gebäuden wie diesem. Hier ist auf der einen Seite ein Krankenhaus, auf der anderen Seite ein Flughafen.
Den Eifelturm in Miniatur gibt es genauso wie hier Hollywood auf einem Hügelchen.
...bis dann Freizeitpark-Stimmung aufkam, und die Erwachsenen plötzlich zu tollenden Kindern wurden. Dem totalen Trash war damit der Weg geebnet und in Skurrilitäten sind die Inder wirklich gut. Wie zum Beispiel diese ausgefeilte Idee:
Ein Dorfbrunnen, aus dem es "Heeeelp" schreit.
Beim Hineinsehen dann ein - wohlgemerkt: weißer - Junge im Wasser.
Vollautomatisch versinkt der gute dann unter mechanischem Blubbern.
No comment. Oder doch: Verstehe, wer will.