Sonntag, 22. Juli 2012

Und Action!


Halbzeit: unbeschreiblich viel gesehen, gehört, gefühlt. Vieles davon lässt sich gar nicht verarbeiten, ich nehme es einfach hin. Ich zeige Dir einfach mal, was ich heute erlebt habe. Diesmal keine Hochglanzfotos, sondern etwas mehr über das Land.
Direkt vor unserer Haustür, vor den Toren Hyderabads, erstreckt sich über 10 Kilometer das nach Guinness  größte Filmstudio der Welt. Hier sitzt das Herz der größten Filmindustrie Indiens (Tollywood/Telugu film industry), welche wiederum zusammengenommen die größte der Welt ist, wenn man mal von den Budgets absieht. 245 Filme wurden hier in Hyderabad alleine in einem Jahr gedreht, dazu kommen noch zahlreiche TV-Sendungen. Die Filmsprache ist Telugu, die Amtssprache von diesem Staat, der ungefähr so groß wie Deutschland ist. Auch wenn Englisch und Hindi offizielle Sprachen Indiens sind, spricht sie ein Großteil der Menschen hier nicht. Das führt dazu, dass sich die Inder über die Bundesstaaten hinweg selbst nicht verstehen. Denn die 28 Staaten haben jeweils eigene Sprachen. Die sind verwandschaftlich so weit voneinander entfernt, dass ein Inder im benachbarten Bundesstaat kein einziges Wort versteht. Die wichtigsten Filme werden dann allerdings von Telugu auf Hindi übersetzt, was zumindest die meisten Nordinder verstehen. Schon alleine das lässt erahnen, wie vielfältig das Land ist und dass man es immer mit großen Zahlen zu tun hat, wenn man versucht, etwas von hier zu begreifen und zu beschreiben.Und dass man einfach nicht fassen kann, wie das Land demokratisch geführt wird.

Ich denke, die meisten Deutschen haben eine ungefähre Vorstellung von indischen Filmen, die wenigsten haben einen ganzen gesehen oder sehen können. Man kann sich dann meistens nur dran erinnern, dass er bunt war und viel gesungen und getanzt wurde. So ist es wirklich, und die meisten Filme erzählen auch von Liebesgeschichten, die sich alle ähneln. Für viele Europäer mag der oft übertrieben theatralische Stil und die ewig-dramatischen Szenen befremdlich oder langweilig wirken. Aber hier, vor Ort, macht alles viel mehr Sinn. Auch wenn Indien eine Demokratie und aufstrebende Weltmacht ist, eine sehr junge Bevölkerung hat (Altersdurschnitt Indien: 25 Jahre, Deutschland: 43) und sich der Lebensstil sichtlich verwestlicht, existieren nach wie vor unüberwindbare gesellschaftliche Schranken: beinahe alle indischen Ehen werden von den Eltern arrangiert. Viele der Paare sehen sich an ein paar Tagen vor der Hochzeit zum ersten Mal. Und dies wiederum geschieht in der Regel nur unter Mitgliedern der gleichen Kaste. Und obwohl an anderen Orten versucht wird, das Kastensystem zu beerdigen, ist es doch immer wieder so, dass diejenigen Mächtigen, die von dem System profitieren, sich auch weiter für dessen Erhalt einsetzen. In diesen starren Strukturen, die es kontroverser Weise irgendwie in die Gegenwart geschafft haben, schleicht sich eine Revolution ein. Die Filmindustrie schmiedet Träume von grenzenloser Liebe, über die Kasten hinweg, über die Eltern und die Tradition hinweg, vorbei an unausgesprochenen Verboten, dass Frauen keine Bäuche oder Ausschnitte aufblitzen lassen dürfen, dass Paare sich in der Öffentlichkeit nicht umarmen und küssen sollten. Schaltet man den Fernseher ein, wird wild getanzt, Haut gezeigt und intime Szenen gefilmt. Und die Masse der (jungen) Bevölkerung ist begeistert davon. Nicht nur, dass täglich (!) ca. 10 Millionen Inder ins Kino pilgern und die neuen Botschaften aufsaugen -  das Filmeschauen in einem indischen Kinosaal ist emotional so geladen wie damals vielleicht die Premieren der ersten bewegten Leinwandbilder in Europa. Ein Ort, an dem man seinen Gefühlen und Träumen freien Lauf lässt, um sie dann auf der Straße wieder zu verstecken. Diese Euphorie kann mit viel Geduld und noch mehr Bildung vielleicht irgendwann mal ein Schlüssel sein zu mehr Selbstbestimmung, was das Liebesleben und andere Werte angeht. Auch hier muss ich anmerken, dass es sich um weite Teile der Bevölkerung handelt, es aber auch immer wieder Ausnahmen gibt.

Eine Ausnahme bin ich mit meinen Haaren und dem Bart auch, mir wurde jetzt schon mehrmals zugetragen, dass ich doch wie ein Filmstar aussähe (nach Jesus und Talibanmitglied). Da hatte dann neulich im Zug ein Inder gesagt, der Hauptdarsteller aus dem Hindi-Film „Rockstar“ wär so einer. Hab mich dann erst mal ganz stolz gefeiert. Heute erzählt mir Prasad, dass der Kerl, wie jeder Filmstar (und auch Rockstar?) hier, den ganzen Film über kurze Haare und Schnäuzer trägt. Bis auf 15 Minuten, da ist er deprimiert, spielt keine Musik mehr, fängt an zu trinken – kurz, ihm geht’s so richtig dreckig, weil seine geheim Geliebte einen anderen geheiratet hat. DA trägt er dann lange, lockige Haare. Generell ist meine Frisur wohl eher für die Bösewichte und Schicksalsträger reserviert. So kann es gehen, wenn man seinen Rasierer aus Gewichtsgründen zu Hause lässt.

Hier ein paar Schnappschüsse von unserem Trip in die Ramoji Film City:

 
Erst gab es ein paar Blicke auf bunteste Drehkulissen...

 ... dann auch mal einen Bahnhof sammt Zug auf Reifen. Weiter ging's über diverse Tempel-Nachbauten...



  
...zu Gebäuden wie diesem. Hier ist auf der einen Seite ein Krankenhaus, auf der anderen Seite ein Flughafen.

Den Eifelturm in Miniatur gibt es genauso wie hier Hollywood auf einem Hügelchen.


 Manches Programm war wirklich super, wie diese Mischung aus traditionellem und modernen Tänzen...

...bis dann Freizeitpark-Stimmung aufkam, und die Erwachsenen plötzlich zu tollenden Kindern wurden. Dem totalen Trash war damit der Weg geebnet und in Skurrilitäten sind die Inder wirklich gut. Wie zum Beispiel diese ausgefeilte Idee:

 Ein Dorfbrunnen, aus dem es "Heeeelp" schreit.

Beim Hineinsehen dann ein - wohlgemerkt: weißer - Junge im Wasser. 

 Vollautomatisch versinkt der gute dann unter mechanischem Blubbern.


 No comment. Oder doch: Verstehe, wer will.